... über Abnehmwahn und Leistungsdruck · Vreni schreibt

Der Beginn und das Ende von allem oder Wie meine Essstörung mich fand

Ich bin fünf Jahre alt und komme zum allerersten Mal in meinem Leben auf die Idee, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte. Dass mit meinem Körper etwas nicht stimmen könnte.

1986

Ich liege auf der Matte und warte auf meine Trainerin, die der Reihe nach alle Mädchen dehnt. Ich gehe sehr gerne zum Training. Dabei mache ich es nur, weil meine Schwester dort ist. Eines Tages wollte sie unbedingt zur Rhythmischen Sportgymnastik. Keine Ahnung wie sie darauf kam. Sie muss es irgendwo im Fernsehen gesehen haben, oder im Kindergarten hat jemand die Werbetrommel gerührt. Auf jeden Fall musste ich das auch – und zwar UNBEDINGT. Warum? Ähm … Ich habe so überhaupt keine Ahnung was ich dort machen muss, aber wenn meine Schwester das macht, dann muss es toll sein.

Also liege ich nun dort mit gespreizten Beinen auf dem Rücken, während Tina* zu mir kommt, sich über mich beugt und die Beine so weit es geht gen Boden drückt. Das ist okay. Ich bin recht gelenkig und meine Schmerzgrenze ist trotz meines jungen Alters ziemlich hoch. Manchmal beiße ich ordentlich auf die Zähne, manchmal kullert auch das ein oder andere Tränchen, aber jetzt in meinem Alter ist der Zeitpunkt, an dem man noch alles rausholen kann was geht. Es gibt genetische Grenzen und je früher man beginnt, umso besser kann man seine eigene maximale Dehnbarkeit erreichen. Das mag ab und an schmerzhaft sein. Ich finde es aber schön. Es macht Spaß immer beweglicher zu werden und die Fortschritte selbst zu spüren.

Die erste Diät naht

Im Gegensatz zu anderen Bereichen. Denn was sie mir jetzt antut, ist wesentlich schlimmer als der körperliche Schmerz. Sie mustert meine Oberschenkel und sagt mir, ich solle keine Cola mehr trinken und nicht so viele Süßigkeiten essen. Meine Oberschenkel seien etwas zu kräftig. Na selbstverständlich! Cola! Ich bin nicht hyperaktiv und habe kein ADS oder so was. Könnte also langweilig werden. Daher geben mir meine Eltern jeden Tag Cola. Meine Eltern stehen eben drauf, die ganze Nacht wach zu sein, während meine Schwester und ich durch das Zimmer hüpfen wie auf LSD. Ernsthaft!? Ich bin fünf! Selbstverständlich gibt es bei uns so was überhaupt nicht zu Hause.

Ich stehe erst einmal völlig auf dem Schlauch. Schließlich bin ich noch klein. Nicht den Hauch einer Ahnung habe ich, was sie mir sagen möchte, kindlich naiv wie ich bin. Wir essen im Ernst kaum Süßigkeiten und Cola durfte ich nicht mal probieren. Und dann dämmert es mir. Es gibt einschneidende Ereignisse, die ein Leben völlig verändern – von jetzt auf gleich. Dann gibt es ein davor und ein danach. Das hier ist für mich so ein Moment. Ich bin fünf Jahre alt und komme zum allerersten Mal in meinem Leben auf die Idee, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte. Dass mit meinem Körper etwas nicht stimmen könnte. Dass er so wie er ist nicht in Ordnung ist. Gleichzeitig habe ich gerade eben zum allerletzten – und wirklich allerletzten – Mal in meinem Leben auf meine Beine geschaut, ohne sie zu verabscheuen. Nie wieder werde ich an mir hinunterblicken und sie schön finden.

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Die Selbstzufriedenheit ist für immer futsch

Mag sein, dass andere Kinder, andere Charaktere, vielleicht stärkere, selbstbewusstere auf so etwas anders reagieren. Und es mag sein, dass manch einer findet, ich übertreibe. Aber für mich wird es nicht einen einzigen Moment mehr geben, in dem meine Beine in Ordnung sind. Keine Hose kann gut genug sitzen, kein Rock genug bedecken und kein Kompliment der Welt kann das zurücknehmen. Irgendwie bin ich verletzt und ich schäme mich, obwohl es natürlich keinen Anlass dazu gibt. Ich spüre heiße Tränen, die ich runterschlucke. Mir wurde gerade nicht gesagt, mein Spagat sei nicht weit genug oder mein Sprung nicht hoch genug. Ich habe keine Chance mit hartem Training daran zu arbeiten. Nein … Ich bin nicht gut genug so wie ich bin. Auch wenn ich es in diesem Moment nicht realisiere und nicht zuordnen kann: Es bricht etwas in mir – meine natürliche kindliche Zufriedenheit mit mir selbst. Sie ist fort und zwar für immer.

Heute

Ja, das war so ein Moment. Das war das allererste Mal, das ich meine Figur in Frage stellte und das allerletzte Mal, dass ich sie in Ordnung fand. Der Moment vor dem letzten Mal, dass ich mir keine Gedanken um meine Figur oder mein Essen machte. Bis zum heutigen Zeitpunkt habe ich noch nie – und wenn ich schreibe nie, dann meine ich tatsächlich niemals – eine enge Jeans, einen Rock oder sonst irgendein Kleidungsstück getragen, in dem ich meine Beine schön fand. Und viel schlimmer noch: ich fand und finde sie nicht nur nicht schön, sondern grauenhaft. Ich bin mir dessen bewusst, dass es nicht die eine Äußerung war, die zu einer derartigen Entwicklung geführt hat. Viel mehr war es natürlich eine Summe der Ereignisse. Eine Kumulation jeden Wiege-Tages unter strengem Blick, jeden unzufriedenen Seufzers bei meinem Anblick, jeden Kommentars über das Essverhalten, jedes verletzenden Wortes über die Figur sowie meiner eigenen Einstellung dazu.

Denn ja … es geht hier auch nicht um Schuldzuweisung. Ich habe das alles mitgemacht und zugelassen. Die Sportart und die Erfolge habe ich so sehr geliebt, dass alles andere nur eine blöde Begleiterscheinung war. Was sich aber sagen möchte ist: Jede kleine, unbedachte Äußerung kann so viel bewirken. Sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Man sollte also sehr genau aufpassen, wie man was sagt. Ich bin mir auch bewusst darüber, dass es Kinder gibt, die so etwas locker wegstecken. Genauso klar ist aber die Möglichkeit einer ähnlichen Reaktion wie meiner. Und ist unter zwanzig Kindern auch nur eines, das so regiert, ist es das dann wert? Sollte man wirklich auf diese Art und Weise selektieren?

Eine andere Sichtweise von Ästhetik

Zweifelsohne ist für diese Sportart eine grazile Figur eine notwendige Voraussetzung. Aber wir sprechen hier nicht von übergewichtigen Personen. Wir sprechen in meinem Fall von einem Kind, das sogar noch Babyspeck haben dürfte. Von Kindergartenkindern, die nicht nur im Wachstum sind, sondern gerade erst damit angefangen haben. Wir sprechen später von Teenies, die sich in der Pubertät befinden und auf einmal etwas Hüfte und Brüste bekommen. Von fünf oder manchmal vielleicht nur zwei Kilogramm mehr oder weniger. Von Figuren, die von dürr in dünn und maximal in normal übergehen. Ernsthaft? Wäre es da nicht viel sinnvoller etwas an der Sichtweise zu ändern statt an den Mädchen?

Ich für meinen Teil kann heute endlich diese Frage mit „Ja“ beantworten, nachdem ich so viele Jahre nach einem Idealbild gestrebt habe, das nicht nur ungesund, sondern hässlich ist. Wie wäre es mit Punktabzug für „zu dünn“? „Sorry … das ist unästhetisch, 0,5 Punkte weniger für zu deutlich hervorstehende Rippen … „ Heute noch geradezu unvorstellbar. Das wäre wie „zu doof für die AfD“. Nicht so realistisch, aber ein Knaller. Ich werde mich dafür einsetzen. Es muss sich ändern. Diese Sportart ist so wunderschön und so hässlich zugleich. Geradezu unästhetisch würde ich sagen …

Es passt nicht wirklich zum Diät-Wahn, aber da es heute so unerträglich heiß ist, könnt ihr euch hier nochmal meine Rezepttipps für echt heiße Sommertage anschauen:
Blitzrezepte für heiße Tage

3 Kommentare zu „Der Beginn und das Ende von allem oder Wie meine Essstörung mich fand

  1. Ich war frühreif und meine Kurven empfanden die Klassenkameraden auch als dick.
    Was lachhaft ist, wenn ich Fotos von damals angucke. Mein Leben lang meckerten ungefragt Dritte an meiner Figur rum. Inzwischen bin ich wirklich kräftig und mag meinen Körper aber gern. Zum Essen werde ich aber wohl nie mehr ein unschuldiges Verhältnis haben.

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    1. Vielen Dank für deine ehrlichen Worte. Ja, selbst wenn man sich mag vergisst man das irgendwie nicht. Vor allem, wenn man es immer wieder gehört hat. Mir geht es auch so, dass ich nie einfach nur esse. Ich mache mir immer Gedanken. Aber schön, dass du deinen Körper heute magst. Leider bin ich noch nicht soweit. Aber ich arbeite dran 😅 Liebe Grüße, Vreni

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