Was sind die Canarios denn bitte für ein Volk? Was läuft da schief? „Schatz, was wollen wir heute unternehmen?“ „Ach du … wir haben uns schon lang nicht mehr gewogen. Lass uns einen Strandspaziergang machen und zwischendurch immer mal kurz auf die Waage springen.“

Dezember 1995
Deutsche Meister! Wir sind tatsächlich Deutsche Jugendmeister geworden. Für die anderen ist das vielleicht nicht so wahnsinnig interessant, aber für mich ist es der erste Titel auf Bundesebene. Es fühlt sich nicht nur geil an, sondern wir haben damit auch einen Auftritt bei der „Blume Gran Canaria“ gewonnen – natürlich verbunden mit einem einwöchigen Aufenthalt in … Gran Canaria … mitten in der Schulzeit. Dass daraus ein Trainingslager werden wird, ist uns vollkommen bewusst. Die Freude ist dennoch riesig und schließlich kann man ja nicht NUR trainieren, oder? Denken wir – aber selbstverständlich kann man: morgens, mittags, abends und manchmal dazwischen. Im Hotel haben wir eine Gruppe von Jungs in unserem Alter getroffen. Ja, was macht man so mit 14/15? Feiern, Spaß haben, sich mit Jungs treffen … wir nicht. Die schon. Also nicht mit Jungs treffen, aber den Rest eben. Marina* hat das irgendwie mitbekommen und schlägt uns einen Deal vor. Wir spielen morgens gegen die Jungs Volleyball, und wenn wir uns so richtig ins Zeug legen, ersetzt das eine Trainingseinheit und wir können gemeinsam an den Pool. Gesagt, getan. Wir versammeln uns also und spielen Volleyball. Gegen Jungs. Gegen Jungs, die ein bis zwei Jahre älter als und circa doppelt so schwer wie wir sind. Gegen Jungs, die zurzeit in einem Volleyball-Trainingslager sind. Das ist doch fair, oder? Nun. Es kommt, wie es kommen muss. Wir ackern, kämpfen, schwitzen, treffen den ein oder anderen Ball und bekommen den ein oder anderen ins Gesicht. Aber: wir strengen uns so was von an! Reicht aber nicht. Marina lässt uns zum Ballett antreten, weil wir uns angeblich nicht verausgabt haben. Ok … Die Chancen für uns, in dem Spiel zu glänzen, standen ja auch wirklich Bombe.
Die Verschwörung
Entsprechend enttäuscht sind wir, dass wir jetzt eigentlich ja noch zusätzlich trainieren müssen. Wir verschwören uns also gegen unser Trainergespann und kommen in Strandklamotten ins Foyer. Ui ui ui … Das hätten wir mal schön bleiben lassen sollen. Es beschert uns einen riesigen Ärger und wochenlanges Training ohne unsere Landestrainerin. Die muss nämlich beleidigt Herztabletten schlucken. Wir tun uns zusammen, um uns zu entschuldigen. Wir fühlen uns elend und schuldig wegen unseres Benehmens. Dafür, dass wir so dreist waren, ein Versprechen einzulösen, das uns zusteht. Wir sind so. Unsere Mannschaft ist so. Ich habe von anderen gehört, beispielsweise unserer jüngeren Gruppe: Die beugen sich nicht. Aber wir schon. Wir wollen den großen Erfolg und zwar unbedingt. Also überwinden wir unseren Stolz und klopfen an die Hotelzimmertür der Trainerinnen. Nur Marina macht auf. Unsere Entschuldigung wird aber erst mal nicht akzeptiert und wir … na? Richtig! Wir beugen uns und gehen wehmütig zum Training. Aber vorher rufen wir unsere Eltern an. Wir sind so wütend und beschließen aufzuhören. Einfach mit RSG Schluss zu machen. Vanessa* meint „Niemals machen wir das. Das können wir doch gar nicht.“ Das stimmt. Und da begreifen wir es, unterhalten uns sogar darüber. Wir sind süchtig. Süchtig nach dieser Sportart, nach dem Training, dem Drill, nach uns und dem Erfolg. Wir sind abhängig von unserer Leistung und dem Ruhm.
Die Waage als Freizeiterlebnis
Nun gut. Wir haben uns also jetzt eine Extra-Runde Joggen eingebrockt. Die Jungs sind wirklich süß und begleiten uns. Vielleicht finden sie uns heiß, vielleicht haben sie auch nur Mitleid, auf jeden Fall freuen wir uns über die Abwechslung. Noch. Denn auf dem Weg – man glaubt es kaum – stehen überall Waagen. Direkt am Straßenrand, am Strand, am Wiesenweg … Personenwaagen – diese Dinger stehen einfach überall! Man muss nur eine Münze einwerfen und es kann losgehen. Was sind die Canarios denn bitte für ein Volk? Was läuft da schief? „Schatz, was wollen wir heute unternehmen?“ „Ach du … wir haben uns schon lang nicht mehr gewogen. Lass uns einen Strandspaziergang machen und zwischendurch immer mal kurz auf die Waage springen.“ „Ach wie schön. Ja, aber vergiss bitte das Kleingeld nicht. Sonst ärgern wir uns nachher.“ „Klar … vielleicht schauen wir heute mal, was wir zusammen wiegen. Ach wie aufregend!“ So ungefähr, ja? Also bitte! Wir sind völlig geschockt und können es echt gar nicht fassen.
Ich bin die Letzte. Das bin ich beim Joggen immer. Eigentlich ist mir das total egal. Schließlich geht es nicht darum, wer am schnellsten seine Übung turnt. Aber ich muss zugeben, bei den Jungs ist es mir doch ziemlich peinlich. Und dann wird es noch schlimmer. Kaum sind wir eine halbe Stunde unterwegs, halten wir an so einem miesen Ding an. Wir werden aufgefordert, Kleingeld zu suchen. Wie schön! Wir dürfen uns heute nicht nur in Anwesenheit von unserem Volleyball-Team wiegen, sondern auch noch selbst zahlen. Wer hat denn nicht die Hosentaschen voller Münzen, wenn er joggen geht!? Wir offensichtlich, was uns abschätzige Blicke einbringt. Müssen wir halt unsere Schulden bezahlen, wenn wir von unserem tollen Trip mit extra Wiege-Erlebnis zurückkommen. Lohnt sich gewiss.
Niemand kann, jeder muss: Einmal wiegen bitte!
Jeder drückt sich um das silberne Monster herum in irgendeiner total abwegigen Hoffnung, verschont zu bleiben. Selbstredend völlig sinnlos. Vanessa geht zuerst. Tut sie meistens, denn sie wiegt nie zu viel. Sie darf mehrfach ans Buffet gehen, während wir uns für einen Gang entscheiden müssen. Sie darf sogar Nudeln essen. Krass eigentlich, dass ich sie trotzdem so lieb habe. Als nächstes muss ich dran glauben. Ich mache einen großen Schritt, schließe die Augen und stelle mir vor, woanders zu sein. Ich denke einfach nicht an die Demütigung, vor den Jungs auf die Waage zu müssen. Ich höre die verletzenden Worte nicht, die mir entgegengeworfen werden und sehe die Anzeige nicht. Es steht sowieso niemals eine zufriedenstellende Zahl darauf. Kurz muss ich die heißen Tränen wieder runter drücken, weil ich weiß, dass Marina irgendetwas Schreckliches über meine Figur gesagt hat, während die Augen und Ohren der Hochleistungssportler aus unserem Hotel die ganze Zeit auf mich gerichtet sind. Aber dann ist es vorbei. Ich habe schon Schlimmeres auf der Waage erlebt, also möchte ich einfach nur schnell fertig werden. Jetzt ist Katja* dran. Genau wie ich hat sie ständig mit ihrem Gewicht zu kämpfen, obwohl sie mir leistungsmäßig weit überlegen ist. Vielleicht steht sie gerade deshalb noch mehr unter Druck. Als sie sich auf die Waage stellt, wartet sie gar keine Reaktion ab. Sofort fängt sie an zu weinen und beteuert, dass sie ihre Tage habe. Dann wöge sie immer einen Kilo mehr als sonst, das wisse doch jeder. Sie weint ziemlich heftig und die Jungs beginnen unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu tänzeln. Sie scheinen sich unwohl zu fühlen, aber wohl nicht halb so unwohl wie wir! Auf, vor und wegen der Waage sind schon viele Tränen geflossen. Aber das hier ist demütigend. Wir sind Teenies. Wir wollen die Jungs beeindrucken. Stattdessen laufen wir mit ihnen und zwar viel schlechter als sie und geben ihnen dann dieses Schauspiel. Unglaublich, dass eine 15-Jährige lieber diese Erniedrigung in Kauf nimmt, als sich einfach den einen Kilo mehr einzugestehen – oder einfach drüber zu stehen. Unglaublich, dass wir hierzu gezwungen werden.
Heute
Vor Kurzem hat mir eine Bekannte gesagt, sie würde keine Waage besitzen. Sie treibe viel Sport und es gehe bei ihr rein um das Wohlbefinden. Unvorstellbar! Klar weiß ich, dass man aufgrund normaler Gewichtsschwankungen maximal einmal pro Woche auf die Waage gehen sollte. Aber was ist schon normal!? Und klar habe ich das „Auf-die Waage-steigen“ auf ein Minimum reduziert. Dennoch verkündet mir meine ständige Begleiterin auch heute noch mindestens zweimal pro Tag die nackte Wahrheit. Andere würden es als wahnsinnig bezeichnen, sich jeden Tag morgens und abends zu wiegen, aber das ist noch gar nichts. Pa! Es gab Zeiten, da habe ich bei 20 Mal am Tag aufgehört zu zählen. Es hätte schließlich sein können, dass der Schluck Wasser, den ich getrunken habe, etwas wiegt. Außerdem wollte ich kontrollieren, ob ein Schokohase auch wirklich genau 500 g wiegt. Bald folgt auch noch ein Beitrag darüber und dann wisst ihr: tut er nicht, wenn er im Bauch ist! Wenn man sich das mal überlegt, wie viel Zeit und Energie ich dazu aufgebracht habe, mein Gewicht festzustellen und mich dann auch noch darüber zu ärgern. Unfassbar, was ich in der Zeit hätte alles machen können! Sagen wir ich brauche zwei Minuten, um mich auszuziehen, auf die Waage zu steigen, mich kurz zu ärgern und dann wieder anzuziehen. Dann habe ich zu meinen Glanzzeiten bis zu einer Stunde am Tag damit verbracht. Oh mein Gott! Diese Zeit ist zum Glück vorbei.
*Alle Namen habe ich natürlich geändert!
Weiter so, liebe Cousine 🙂
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