... über Abnehmwahn und Leistungsdruck · Vreni schreibt

Kampf den Kilos

Der Kampf um die Kilos war eingeläutet. Mit mir in den Krieg zogen meine Eltern, meine Schwester, meine Großeltern, meine Freunde. Niemand blieb verschont.

1987

Tina* hat die Waage dabei. Warum weiß ich nicht, aber offensichtlich möchte sie heute alle Kinder wiegen. Seltsam … ich habe mich noch nie bewusst gewogen. Dass man dünn sein muss, um in unserer Sportart Erfolg zu haben, habe ich mittlerweile verstanden. Dass meine Beine zu dick sind auch. Aber warum mich dazu jemand wiegen muss, verstehe ich trotzdem nicht. Nun gut. Wir stellen uns an. Warum nicht? Der eine wartet heutzutage auf Bananen, der andere eben, um sich wiegen zu lassen. Für Bananen brauchen wir uns schon mal nicht anzustellen. Nicht, weil wir „im Westen“ wohnen, sondern weil wir keine essen dürfen. Wusstet ihr, dass die bösen Bananen Kohlenhydrate für den ganzen Tag haben? Nein? Ist aber so. Jedenfalls wurde uns das gesagt. Ob das tatsächlich so ist, weiß ich selbstverständlich nicht. Interessiert mich auch nicht. Steht einfach nur auf der „die darf ich nicht essen“-Liste. Die hasse ich. Ganz egal, warum die Sachen da draufstehen. Dummerweise sind das nämlich nur leckere Sachen, die jeder gerne isst. Natürlich noch lieber, wenn man nicht darf. Blöd. So … jetzt bin ich dran. Ich stelle mich drauf, die Waage zeigt 18 Kilogramm. Das ist mir völlig egal, denn ich weiß nicht, was 18 Kilo bedeuten. Aber keine Sorge: Das erfahre ich sofort. Nix Gutes sag ich euch! Sie sind viel zu viel. Das erkenne ich sofort an dem Gesichtsausdruck meiner Trainerin, bekomme es aber netterweise auch erklärt. Könnte ja sein, das man ein Stöhnen und Augen-Verdrehen als Kompliment auffasst. Also lieber noch schön vor allen anderen Kindern einer Sechsjährigen reindrücken. „Also nee. Das ist zu viel. Keine Süßigkeiten mehr.“ Eine sehr produktive und hilfreiche Aussage übrigens für mich, da ich so gut wie keine Süßigkeiten esse.


Die Waage als Druckmittel

Sie gibt mir also weder hilfreiche Tipps, was ich gegen mein „Übergewicht“ tun, noch die Hoffnung, dass ich an der Misere etwas ändern kann. Mir wird schlecht und ich habe Angst. Ich fühle mich gerade überhaupt nicht wohl in meiner Haut und will nur noch nach Hause. Aber das Training hat erst angefangen und ich muss noch irgendwie die nächsten zwei Stunden hinter mich bringen. Als meine Mama mich abholt und ich ihr alles erzähle, zuckt sie mit den Schultern. „Na und? Du wiegst schon ewig 18 Kilo. Das bedeutet, du bist gewachsen ohne zuzunehmen. Also bist du schlanker geworden.“ Oh Mann … wie naiv. In den nächsten Jahren wird sie noch lernen, dass das so einfach hier nicht ist und dass „schlank“ lange nicht ausreicht, um hier irgendwen zufrieden zu stellen. In der RSG ist das ein Euphemismus für „vollschlank“. Und auch für mich wird sich bei dem Thema noch einiges ändern. Aber für den Moment bin ich erleichtert und glaube meiner Mama, dass alles gut so ist, wie es ist. Dennoch habe ich verstanden, dass Tina die Waage nicht dabei hatte, um uns zu wiegen, sondern um unser Gewicht zu beurteilen. Um über uns zu urteilen. Und da die Waage ja eigentlich in unserer „Gewichtsklasse“ keine wirkliche Aussage darüber trifft, ob man für die RSG genau richtig oder zu dick ist – ein zu dünn gibt es nicht – ist sie einfach nur ein Druckmittel und wird das ab heute auch für immer bleiben.

Wenn die Panik kommt

Wenige Tage später, sehe ich das Ding schon wieder in Tinas Tasche blitzen. Sofort bekomme ich Panik. Mein Herz rast und schlägt mir bis zum Hals. Ich versuche durchzuatmen und Ruhe zu bewahren, aber es will mir nicht gelingen. Als ich an der Reihe bin, geht es einfach nicht. Ich sehe runter auf meine Füße, dann auf die Waage und ich weiß, dass ich nicht abgenommen habe. Schließlich wiege ich mich nun ständig auch zu Hause. Wovon auch? Viel weniger kann man doch wirklich nicht essen. Ich halte es nicht mehr aus, drehe mich zur Tür und renne. Keine zehn Pferde bekommen mich heute auf dieses Drecksding. Bei der Toilette angekommen, schließe ich sofort ab. Die Tränen strömen mir vor lauter Angst und Scham und Unwohlsein über‘s Gesicht. Tina versucht mich zu überreden, rauszukommen. Das sei doch alles nicht so schlimm. Aber nicht mit mir! Heute lasse ich mich nicht bloßstellen. Heute entscheide ich gleich zweimal – zum ersten und zum letzten Mal. Alle folgenden Male werde ich es nämlich einfach über mich ergehen lassen. Aber heute nicht. Ich weine und weine und es scheint niemanden zu interessieren. Anscheinend dann doch, denn irgendwann klopft endlich meine Mama. Aber ab heute wird sich alles ändern. Ab heute herrscht Krieg.

Heute

Tatsächlich hat sich an diesem Tag vor so vielen Jahren alles geändert. Der Kampf um die Kilos war eingeläutet. Mit mir in den Krieg zogen meine Eltern, meine Schwester, meine Großeltern, meine Freunde. Niemand blieb verschont. Jeder, der beschloss mich gern zu haben, wurde in irgendeiner Art und Weise immer wieder damit konfrontiert. Hat mit mir diskutiert, geschimpft, gelitten. Der eine mehr, der andere weniger, aber der Grundstein war gelegt. Viele Schlachten wurden geschlagen, aber die wenigsten gewonnen. Auch wenn es heute besser geworden ist, so treten wir immer noch ab und an in den Ring. Vor allem mein Mann muss Einiges mitmachen. Er isst mal fettarm, mal Low Carb, probiert die Glyx-Diät, verzichtet mal auf Alkohol, mal auf Süßigkeiten, wird zu Sport gezwungen, kämpft mit mir gegen „Babyspeck“ und und und … Alles, um mich zu unterstützen. Bloß beim Nix-Essen: Da ist er raus. Alles hat wohl seine Grenzen. Dennoch ist Essen, auch in Verbindung mit meiner Sportart, ein leidiges Thema, das immer wieder zu Streit führt. Er meint, ich sähe nur die positive Seite. Die Dinge, die mich stark gemacht haben: Disziplin, Zusammenhalt, Erfolg, Freundschaft und der Spaß an der Sportart. Und so wie ich befürchte, er könnte das nicht sehen, so blende ich all das aus, das die Narben hinterlassen hat. Alles, was er verlange, wäre, es von allen Seiten zu beleuchten und zuzulassen, dass eben nicht alles Gold war. Die Wahrheit tut eben manchmal weh. Durch ihn habe ich gelernt, dass ich das alles ruhig kritisch sehen darf. Ich habe mich immer persönlich angegriffen gefühlt. So als ob er versuchen würde, mir diese wunderschönen Erfahrungen mies zu reden. Aber er hat mir gezeigt, dass die negative Seite zu akzeptieren und zu sehen, keineswegs die Erfolge schmälert, die wir errungen haben. Die bleiben uns für immer. Und auch für immer in guter Erinnerung.

*Die Namen wurden natürlich immer von mir geändert!!

9 Antworten auf „Kampf den Kilos

  1. Pingback: Bye bye 2019
  2. Gibt es eigentlich einen rationalen Grund, warum die Sportler in der rhythmischen Sportgymnastik sehr dünn sein müssen?
    (Zumal ihr auf dem Foto alle sehr dünn ausseht, keineswegs „zu dick“. … Da ich auch die anderen Beiträge in deinem Blog dazu gelesen habe: Das hört sich nach einem ziemlich gestörten System an seitens der Ausbilder/Leiter.)

    Beim Skiweitsprung und beim Langstreckenlauf ist weniger Gewicht ja bis zu einem gewissen Grad ein echter Vorteil.

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    1. Vielen Dank für deinen Kommentar. Einen rationalen Grund gibt es natürlich nicht. Es ist die reine Ästhetik. Natürlich können gewisse Bewegungen nicht ausgeführt werden, wenn man zu viel Körperfülle hat. Aber darüber reden wir ja eigentlich nicht. Bei dem Gewicht hier, geht es rein um das Gefallen bei den Kampfrichtern. Genau deshalb ist es mir auch ein Anliegen, dass sich dort etwas ändert. Tatsächlich glaube ich, ist es etwas besser geworden heutzutage, aber mittlerweile bin ich auch nicht mehr ganz im Thema. Grundsätzlich herrscht einfach ein großer Leistungsdruck. Aber ich denke, der geht mit dem Leistungssport an sich einher. Ich bin oft zwiegespalten zwischen „muss halt sein, wenn man Erfolg will“ und „das ist es nicht wert. Spaß geht vor.“ Ganz liebe Grüße, Vreni

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      1. Danke für deine offene Antwort. 🙂 … Wahrscheinlich herrscht überall im Leistungssport ein großer Leistungsdruck und alles kann man im Leben nicht haben, sondern muss sich da letztlich immer ein Stück weit zwischen den Anforderungen der Sportart (egal wie sinnvoll) und einem anderen Leben entscheiden.

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