Wir haben darüber gesprochen, was ich alles machen kann, welche Freiheiten ich habe, wie toll das alles ist. Wir haben aber nicht darüber gesprochen, wie es sich anfühlen wird. Da ist ein riesiges schwarzes Loch mitten in meiner Brust.

1997
Wir sind auf Klassenfahrt in England. Jede 10. Klasse fährt nach Quorn Hall – ein Schullandheim für Saarländer sozusagen. Zuerst waren wir zu zweit in Gastfamilien untergebracht. Keine Ahnung, was an England toll sein soll, aber das Essen ist es schon mal nicht. Es war grässlich. Aber alle hatten Angst vor BSE und haben daher „Vegetarier“ angekreuzt. Ich kann nicht sagen, dass es das besser gemacht hat. Jetzt aber sind wir in Quorn Hall und trotz des wenigen Essens der letzten paar Tage geht es mir nicht besonders gut. Wenigstens muss ich mir keine Gedanken darüber machen, wie ich verstecken kann, dass ich mein Essen nicht esse. Unsere Lunchpakete verteilen wir alle an Obdachlose. Damit kein schlechtes Gewissen aufkommt, wenn wir zu Mc Donalds gehen. Außer bei mir natürlich. So dreht sich mein kompletter Tagesablauf darum, was ich essen darf, was ich essen will, was ich nicht essen sollte und was ich in mir behalten möchte und was nicht. Darum und um Shoppen und Sightseeing 😉
Liebeskummer auch noch mit an Bord
Außerdem stehe ich auf einen Typen, der ne Freundin hat. Ich hab ihm einen klitzekleinen Kuss auf den Mund gegeben, den er auch wollte. Zumindest hat es sich so angefühlt. Auf jeden Fall ist seine Freundin jetzt stinksauer – verständlicherweise. Das kümmert mich nicht besonders, denn sie ist eine dumme Kuh. Aber es macht die Situation natürlich nicht gerade einfacher. Der Typ spricht nicht mehr mit mir. Und das verletzt mich wirklich. Denn verknallt bin ich schon, sonst hätte ich das schließlich nicht gemacht. Für einen kleinen Moment hat mir da jemand das Gefühl gegeben, dass ich mehr bin als mein Sport, und dass es egal ist, ob ich zwei Gramm mehr als gestern wiege.
Also suche ich nach allen möglichen Erklärungen, warum es so schrecklich wäre, wenigstens normal mit mir umzugehen. Dass er sich einfach wie ein Idiot verhält, wäre zu simpel. Und dass ich den Grund nicht herausfinde, quält mich. Es muss dann doch an den paar Gramm liegen, die ich definitiv ohne Training in den letzten Tagen zugelegt habe. Er hatte mich umarmt. Vielleicht hat er dabei gemerkt, dass mein Bauch in keinster Weise mehr die beste Version seiner selbst ist.
Normales Teenagerleben?
„Vielleicht ist er aber auch einfach ein Blödmann“. Thomas* zieht an seiner Zigarette und bietet mir eine an als wir uns vor dem Schullandheim darüber unterhalten. Ich habe mir aber selbst ein Päckchen gekauft, obwohl ich vorher nur mal probiert hatte. Denn wer weiß!? Angeblich nehmen die Leute zu, die das Rauchen aufgeben. Umgekehrt könnte es also vielleicht auch klappen. Dann könnte ich möglicherweise sogar wieder in der Gruppe turnen ohne die Mädels beim nächsten Wettkampf die halbe B-Note zu kosten. Diesen Gedanken spreche ich laut aus. Und dann – völlig unerwartet – führe ich zum ersten Mal im Leben ein ernsthaftes Gespräch darüber, meine sportliche Karriere zu beenden. Darüber, mit meiner großen Liebe Schluss zu machen – einfach so. Den Ballast abwerfen, die Bürde ablegen, mich der Verantwortung entziehen… Frei sein!
Keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, aber wir reden über Vor- und Nachteile, über Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, darüber wie ein Teenagerleben aussieht ohne tägliche Trainingseinheit dafür mit „Freunde treffen“. Ich könnte essen, was ich möchte, so viel ich möchte, wann immer ich es möchte. Nach der Schule könnte ich auf der Couch liegen. Auf der Couch liegen und einfach gar nichts tun. Nichts! Das hört sich so toll an, dass ich am Ende des Gesprächs völlig enthusiastisch bin. Ich habe eine Entscheidung getroffen: Wenn wir zuhause sind, trenne ich mich nach zwölf Jahren von meinem geliebten Sport.

Die Wette gilt
Auf dem Weg zum Bus erzähle ich meiner besten Freundin von meinem Vorhaben. „Nie im Leben“, ruft Thomas von vorne. „Ich wette um ein Bananen-Weizen, dass du zuhause einen Rückzieher machst. Niemals hörst du auf. Niemals.“ Ein Bananen-Weizen! Da zieht sich mir alles zusammen. Allein die beiden Worte Banane und Weizen in einem Satz haben so viel Kalorien, dass mir schlecht wird. Als ob mich das reizen könnte. Das bringt mich jedoch nicht von meiner Entscheidung ab. Der wird schon sehen! Zuhause angekommen, werde ich einen Schlussstrich ziehen und mir dann das kack Weizenbier einfordern.
Und genauso läuft es! Nachdem wir Mittwoch wieder zuhause angekommen sind, lasse ich mir noch ein paar Tage Zeit. Dann aber gehe ich in die Halle, wärme mich mit den Mädels gemeinsam auf, erzähle es ihnen und marschiere dann geradewegs zu meiner Trainerin. Nicht, dass ich doch noch mal einknicke. Und dann sage ich es ihr einfach. Ich denke, sie ist schon traurig, aber nicht besonders verwundert. Auch sie sieht, dass ich die Kilos der letzten Wochen nur schwer runterbekommen würde. So dürfte ich sowieso nicht an den Start gehen. Und wenn, dann nur mit schlechtem Gewissen. Danach trainiere ich noch mit, ganz normal. Dann verlasse die Halle und gehe nie wieder zum Training. Zumindest nicht zu meinem eigenen.
Ein paar Wochen später: die Zeit danach
Ich liege im Bett, traue mich nicht meine Augen zu schließen, weil die Leere mich dann zu erdrücken scheint. Ich habe mit meinen Freunden darüber gesprochen, was ich alles machen kann, welche Freiheiten ich habe, wie toll das alles ist. Wir haben aber nicht darüber gesprochen, wie es sich anfühlen wird. Da ist ein riesiges schwarzes Loch mitten in meiner Brust. Ich greife immer wieder um mich, so als könne ich mich mit meinen Armen zusammenhalten. Halte mich fest, aber irgendetwas tut weh, auch wenn ich nicht benennen kann, was es ist. Diese Leere trage ich mit mir: den ganzen Tag, Tage, Wochen, Monate.
Ich habe so viel Zeit! So viel Zeit, dass ich nichts mehr tue. Alles schiebe ich vor mir her. Auf Hausaufgaben habe ich keine Lust, auf der Couch liegen ist langweilig, ich vergammle meinen ganzen Tag. Ich kann zu nichts Wichtigem einen Beitrag leisten. Da ist niemand mehr, keine Mannschaft mehr, die mich braucht. Ich bin nichts Besonderes mehr. Ein Niemand sozusagen.
Ich führe Tagebuch, schreibe all meine düsteren Gedanken auf. Ich esse und esse, aber das alles füllt die Leere nicht. Zwischendurch esse ich nichts mehr. Auch das kann mich nicht ausfüllen. Also esse ich wieder und esse und esse. Warte auf irgendetwas, weiß aber nicht was. Ich habe keine Selbstmordgedanken oder so etwas. Aber ich bin eben kein Teil eines großen Ganzen mehr und das macht mir zu schaffen. Also esse ich, gammle herum und werde immer dicker. So wirklich glücklich bin ich damit nicht. Eine Zwickmühle, denn zurück will ich auch nicht!

Heute
Der Liebeskummer ist ziemlich schnell verflogen – wie das so ist bei 16-Jährigen 😉 Die Selbstzweifel, der Selbsthass und das Gefühl, niemand mehr zu sein, haben noch sehr lange angehalten. Wenn ich von Jungs abgewiesen oder nicht beachtet wurde, lag es immer nur an meiner Figur. Zumindest war das in meinem Kopf so. Und wenn ich ehrlich bin, ist das auch heute noch so. Mit jedem Gramm, das die Waage weniger anzeigt, steigt meine Laune. Je weniger ich wiege, desto unbesiegbarer fühle ich mich.
Allerdings sind das natürlich auch zwei Paar Schuhe. Das Gewicht, das mich von meinem fünften Lebensjahr an begleitet hat auf der einen Seite. Der Leistungssport, über den ich mich identifiziert habe, der mein Lebensinhalt war, auf der anderen. Wirklich trennen kann man diese Bereiche auch nicht – ein Paar eben. Definitiv ist es jedoch so, dass damals einer davon weggefallen ist und ich nicht so richtig darauf vorbereitet war. So gut wie alle Wertvorstellungen haben sich irgendwie auf meinen Sport konzentriert. Ich erinnere mich noch genau an dieses Leere-Gefühl und dennoch kann ich es nicht beschreiben. Da war auf einmal kein Ziel mehr, keine Aufmerksamkeit mehr und so habe ich meinen Wert nicht mehr erkannt. Ich denke, dass das ein großes Problem beim Leistungssport sein kann. Man definiert sich darüber, wird ständig bewertet und tut das dann auch selbst. So habe ich anschließend nur noch mein Gewicht gehabt, an dem ich mich festhalten und nach dem ich mich bewerten konnte. Bis ich in einem Strudel gelandet bin, in dem ich mich verloren habe. Wiedergefunden haben mich meine Freunde.
Freunde und Familie: die wahren Werte
Meine Familie und meine Freunde haben mich letztendlich aus diesem Loch geholt. Vielleicht nicht bewusst, aber zweifelsohne haben sie das getan – so gut es eben ging. Ich habe gelernt, dass mein Sport mich nicht komplett ausmacht, habe die wirklich wichtigen Dinge zu schätzen gelernt und arbeite unaufhörlich daran. Wie ihr ja wisst: Achtsamkeit und so 😉 Dennoch begleitet mich vieles heute noch. Und so kommt es, dass ich weiterhin nach Perfektion strebe, nach mehr und mehr, nach Weiterkommen, Gesehenwerden, Aufmerksamkeit und allem voran nach dem Dünnsein. Zumindest Letzteres wird nach drei Kindern aber ja zum Glück neu definiert – auch von mir! Obwohl es eigentlich komplett in den Hintergrund rücken müsste. „Es ist nicht wichtig“ ist die Botschaft, die ich allen jungen Menschen, vor allem Mädchen in derartigen Sportarten mit auf den Weg geben möchte. Sie muss nur noch auch in meinem Kopf ankommen!
Habt ihr auch einschneidende Gespräche oder Erlebnisse, die euer Leben komplett auf den Kopf gestellt haben? Und habt ihr auch schonmal Entscheidungen getroffen, die ihr richtig fandet und trotzdem damit zu kämpfen hattet? Ich freue mich auf eure Kommentare 🙂
*Der Name wurde natürlich wie immer geändert.