Platz Nummer vier ist nachgerückt. Denn Platz Nummer drei hat einen zu dicken Hintern, um im Landeskader mittrainieren zu dürfen. Richtig: meine Wenigkeit.

1992
Ich komme in die Halle. Alle tummeln sich schon auf der Matte herum und warten darauf, sich aufzuwärmen. Ich bin total aufgeregt. Denn wisst ihr: Heute gehe ich zum ersten Mal zum Landestraining. Ich freue mich so wahnsinnig. Noch! Denn, was soll ich sagen!? Man kann sich hier auf nichts verlassen. Vor zwei Wochen habe ich den Titel bei den Gaumeisterschaften geholt. Wie der Teufel so will, habe ich es dann bei den Landesmeisterschaften versemmelt. Ich habe eine perfekte Übung geturnt, aber bin dann ganz kurz im Seil hängen geblieben. Wie geschockt habe ich kurz angehalten und zu meiner Trainerin geschaut, die nur mit den Schultern gezuckt und mir bedeutet hat, weiterzumachen. In dieser Sekunde ist mir alles durch den Kopf gegangen. Ich wusste, die ersten drei Plätze sind so knapp, dass es das mit dem Titel war. Wie in Trance schaffte ich es irgendwie, die Übung genauso perfekt zu Ende zu bringen, wie sie begonnen hat. Nur in der Mitte: da war das Fiasko, das mich auf Rang drei bugsiert hat und ich wusste es schon, bevor ich meine letzte Choreografie antrat.
Aber damit kann ich gut leben. Denn ich hatte ja den Gaumeister-Titel und die ersten drei Platzierten der Landesmeisterschaft kommen in den Landeskader. Naja … eigentlich kann ich nicht wirklich damit leben. Drei Tage lang habe ich noch geweint. Aber der Landeskader: Das war es, worauf ich eineinhalb Jahre hingearbeitet hatte und gleich startet mein erstes Training.
Aus der Traum
Meine Mama redet ungewöhnlich lange mit meiner Trainerin. Das ist wirklich sehr seltsam, denn es zählt ja schließlich jede Minute im Training. Ich stelle mich an den Vorhang und schilkse schon mal ein wenig bei unseren Nachbarn. Dort findet das Landestraining statt. Vanessa* packt schon ihre Sachen, um rüberzugehen. Sie ist jeweils Zweite geworden und gesellt sich zu den Mädels im Landeskader. Ich warte noch, aber irgendwie winkt mich niemand rüber. Dann sehe ich es schon am Blick meiner Mama. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
Ich sag euch was: Platz Nummer vier ist nachgerückt. Denn Platz Nummer drei hat einen zu dicken Hintern, um im Landeskader mittrainieren zu dürfen. Richtig: meine Wenigkeit. Das muss meine Mama mir jetzt beibringen. Möglichst schonend. Was soll sie auch sagen? Welche Ausrede soll sie finden? Denn egal, was sie sagt, irgendwann höre ich es sowieso. Nur eben knallhart. Denn warum sollte man ein elfjähriges Mädchen auch mit Samthandschuhen anpacken? Ein elfjähriges Mädchen, das eineinhalb Jahre auf ein Ziel hingearbeitet hat. Dieses erreicht hat und … ja was eigentlich? Doch nicht erreicht hat. Dann doch lieber von meiner Mama. Ich sehe, wie sie vor Wut kocht, vor Entsetzen sprachlos ist und gleichzeitig vor Mitleid weinen könnte.
Nicht essen ist auch keine Option
Also die Goldmedaille zu verkacken, weil man mit dem Fuß im Seil hängen bleibt, ist schon echt hart. Aber das hier – das kann ich gar nicht in Worte fassen. Ich bin acht Jahre alt, habe so hart trainiert. Im letzten Jahr war ich noch Elfplatzierte. Ich habe ein Jahr lang trainiert, gekämpft, geschwitzt, alles aus mir rausgeholt und … ? Wofür? Ich kann es euch nicht sagen. Ich könnte weinen, ich bin wütend, ich hasse alle. Und am meisten mich. Offensichtlich stimmt ja etwas überhaupt nicht mit mir. Denn was nützt das ganze Training, wenn ich an dem wie ich bin einfach nichts ändern kann?
Ich weiß wirklich nicht, wie ich noch weniger essen soll. Am liebsten möchte ich gar nicht essen. Aber was soll ich machen? Das ist einfach zu schwer. Meine Mama zwingt mich zu frühstücken. Alle haben ein Schulbrot dabei. Ich nehme extra keines mit. Aber jeder hat Mitleid und bietet mir was an. Meistens bleibe ich standhaft, aber immer kann ich auch nicht widerstehen. Zu Mittag essen muss ich auch, sonst darf ich nicht ins Training. Bitte was soll ich machen, damit mein Hintern dem Landeskader gerecht wird? Ich sehe da wirklich keine Möglichkeit. Ich bin vollkommen verzweifelt, weil mir so gar keine Lösung einfällt.
Mein Hintern versperrt die Sicht auf mehr
Ich sollte enttäuscht sein von diesem ganzen System. Ich sollte enttäuscht sein, dass das wirklich wichtig ist. Wichtiger als mein Können. Dass sie mein Talent nicht sehen. Nein, nicht mein Talent. Denn das habe ich nicht. Ich muss viel härter als manch andere trainieren, um auf dem einigermaßen gleichen Level zu sein. Ich sollte enttäuscht sein, dass sie das nicht sehen. Meine harte Arbeit und das Ergebnis dessen. Stattdessen aber bin ich enttäuscht von meinem Hintern, der offensichtlich die Sicht darauf versperrt hat. Der ist offensichtlich so dick, dass sie im Kampfgericht oder wo auch sonst nichts anderes sehen können. Ich frage mich, ob ich den falschen Anzug getragen habe. Meine Mama und ich suchen nach Gründen, einer Erklärung. Hätte ich etwas anders machen können? Und ja, ich bin außerdem davon enttäuscht, dass andere genau das Gleiche machen wie ich. Genau das Gleiche essen, anziehen, turnen. Und offensichtlich genügen. Ich aber tue es nicht.
Statt aber die zu hassen, die das entschieden haben oder wenigstens die, die nichts dagegen tun können, hasse ich mich selbst. Nein… Eigentlich nur meine Figur.

Heute
Ihr fragt euch sicherlich, warum ich an diesem Punkt nicht ausgestiegen bin. Warum ich nicht gesagt habe „Das tu ich mir nicht an.“ oder „Dafür bin ich mir zu schade. Sorry, da bin ich raus.“ Warum meine Eltern das nicht für mich getan haben. Ich sag’s euch: ich hätte sie nicht gelassen. Ich war so verliebt in diese Sportart, dass die anderen Dinge nebensächlich waren.
Auf der Suche nach einem Beweis für meinen wahnsinnig dicken Hintern, habe ich alte Fotos durchforstet und bin fündig geworden. Dabei habe ich das Bild gefunden:

Es zeigt mich ungefähr ein Jahr nach dem Landeskader-Debakel. Zugegeben: es ist nicht gerade ein schönes Bild und ihr seht mich hier nicht von meiner besten Seite als Gymnastin. Dennoch wird deutlich, was ich zeigen möchte. Mir ist bewusst geworden, dass nicht ich diejenige bin, die vollkommen bescheuert ist. Ich habe meinen dicken Hintern gesucht, habe stattdessen aber ein Mädchen gefunden, das so dünne Beine hat wie meine Söhne. Zu denen wird immer wieder gesagt, wie dünn sie doch sind. Dabei essen sie wie die Scheunendrescher 😉 Wer einmal Henri zu Besuch hatte weiß, dass er beim nächsten Mal für einen Erwachsenen mitkochen muss. Und zwar für einen Erwachsenen, der wirklich viel isst. Ich habe meine Kinder richtig dafür beneidet, weil ich in ihrem Alter doch schon auf Diät und trotzdem viel zu dick war.
Ja … und jetzt ist da dieses Foto und zeigt in keinster Weise das moppelige Mädchen, das ich glaubte zu sein. Ich sehe tatsächlich nichts, das rechtfertigen würde, was damals passiert ist. Warum durfte ich nicht in den Landeskader? Mag sein, dass mein Blick heute von Muttergefühlen einem normalen Schönheitsideal geblendet ist. Mag aber auch sein, dass damals Mädchen aus einem anderen Verein bevorzugt wurden. Es gab Fördervereine. Da fließen auch mal Gelder. Ich weiß es nicht. Aber als Kind? Als Kind habe ich ganz und gar die Schuld bei mir gesucht.
Konsequenzen
Und wenn ich bedenke, was daraus geworden ist! Wir haben Anzüge schneidern lassen, bestimmte Farben ausgewählt oder eben nicht, bestimmte Schnitte bevorzugt, dafür andere ausgeschlossen. Wir haben meine Beine gebräunt. Ich habe im Training nur noch schwarz angezogen. Diese Liste könnte ich sehr sehr lange fortführen. Und alles nur, um meinen Po zu kaschieren. Alles nur, um zumindest ein kleines bisschen schlanker auszusehen. Ich hatte sogar Unterwäsche, von der ich dachte, dass sie meinen Hintern besonders gut darstellt. Nein, falsch. Von der ich dachte, dass sie meinen Hintern nicht ganz so fett aussehen lässt.
Schaue ich das Foto an, bin ich irgendwie erleichtert. Erleichtert, nicht das dicke Mädchen aus meiner Erinnerung gewesen zu sein. Aber irgendwie macht es mich auch total wütend, dass sie es mich zweieinhalb Jahrzehnte haben glauben lassen. Vielleicht sogar wütend auf mich, dass ich es 25 Jahre lang geglaubt habe. Dass ich so viele Jahre daran festgehalten habe, dass mein Hintern riesig war. Ziemlich riesig sogar, wenn man bedenkt, dass man ja meine Übungen deshalb nicht erkennen konnte. Oder nicht wollte. Das weiß ich nun. Aber das „warum“ habe ich bis heute nicht verstanden.