... über dies und das · Vreni schreibt

Ich hab‘ Dir gar nicht Tschüss gesagt

Und die Welt dreht sich weiter,
und dass sie sich weiterdreht,
ist für mich nicht zu begreifen.
Merkt sie nicht, dass einer fehlt?*

*Glashaus. „Haltet die Welt an“. Drei. 3p Gesellschaft für Kommunikation mbH , 2005. CD.

Ein Abschiedsbrief für meine Freundin

Meine liebe Freundin,

heute ist Dein Geburtstag. Heute würdest Du 40 Jahre alt werden. ERST 40! Wo wir uns doch alle ärgern, dass wir SCHON 40 werden. Verrückt. Wenn alles so gelaufen wäre, wie es laufen sollte, würde heute Abend eine fette Party steigen, und wir würden morgen früh Stein und Bein schwören, dass der letzte Sekt definitiv schlecht war. Aber es ist nicht so gelaufen wie es sollte. Das Leben ist eben manchmal ein Arschloch – in Deinem Falle sogar ein ganz besonders mieses. Denn Du solltest noch ganz ganz viele Geburtstage feiern dürfen. Deine, die Deiner Kinder, Deines Mannes und noch so viele mehr. Stattdessen „feiern“ wir heute zum ersten Mal Deinen Geburtstag ohne Dich. Und um ehrlich zu sein weiß ich nicht mal, ob Du lieber zum Sekt oder doch zum Bier gegriffen hättest. Und ich kann Dich nicht mehr danach fragen.

Überhaupt sind da so viele Dinge, die ich nicht getan oder gesagt habe. Ich habe mich nicht einmal richtig verabschiedet, als ich Dich zum letzten Mal gesehen habe. Ich wusste, dass es schlimm um Dich steht. Dennoch habe ich ganz fest daran geglaubt, dass wir noch ganz viel Zeit haben. Ich habe mich dem Irrglauben hingegeben, dass das Schicksal nicht so grausam sein kann und alles wieder gut wird. Und ich habe einfach nicht über das Schlimmste nachgedacht. So etwas passiert einfach nicht. Und dann ist es doch passiert.

Es tut mir leid!
In den vier Jahren habe ich so gut wie jeden Tag an Dich gedacht. Aber nie habe ich Dich wirklich danach gefragt, was Du empfindest, wie es Dir tatsächlich geht – körperlich wie seelisch. Ich habe Dich erzählen lassen, was auch immer Du erzählen wolltest und habe immer so getan als wäre alles in Ordnung. Habe versucht, möglichst neutral mit Dir darüber zu reden. Obwohl mir doch zum Heulen zumute war, weil Du all die schrecklichen Dinge ertragen musstest. Obwohl doch so gar nichts neutral war. Und ich war so stolz auf Dich, wie Du der Fügung Deine Stirn geboten hast, Deinen Humor und Deine Hoffnung nie verloren hast, nie aufgegeben hast. Aber ich habe es nicht gesagt. Ich hatte Angst davor, ich könnte Dich bedrängen oder Dir auf die Nerven gehen. Genau deshalb habe ich Dich auch nie im Krankenhaus besucht. Ich wusste, dass Du die Familie und die engen Freunde am meisten brauchst und wollte nicht aufdringlich sein. Und klar hattest Du wesentlich engere Freunde, die Dich schon viel länger kannten und begleitet haben. Aber ich hätte ja einfach fragen können. Vielleicht hättest Du „nein“ gesagt. Vielleicht hätte ich Dir aber auch beistehen können, Dir zuhören können, Dir eine bessere Freundin sein können.

Auch im vergangenen Jahr verging kaum ein Ereignis, an dem ich nicht in Gedanken bei Dir war und um Dich geweint habe. Denn weißt Du … jedes war das erste MIT Fritz und gleichzeitig das erste OHNE Dich.

Es hat sich so vieles bei mir verändert
durch das, was Dir passiert ist. Es ist nicht so, dass ich ständig Angst habe, mir könnte etwas Schlimmes zustoßen. Vielmehr lebe ich viel bewusster, hadere nicht mehr so mit mir, jammere weniger, nehme Wehwehchen viel gelassener und schiebe nicht mehr alles auf. Ja, sogar mein Blog wäre immer noch nicht online, wenn ich mich nicht jeden Tag daran erinnern würde, dass ich später nur noch Dinge bereuen möchte, die ich getan habe. Nicht aber diese, die ich nicht getan habe. Und vor allem bin ich dankbarer für alles, was ich habe. Dankbar, dass meine Kinder ihre Mama haben. Dass ich ihre Hand halten und sie streicheln kann, wenn es ihnen schlecht geht. Für die Aussicht, sie aufwachsen zu sehen, sie durch die Pubertät zu begleiten, ihre Launen ertragen zu müssen, ihr Abi zu feiern, sie heiraten zu sehen und so vieles mehr, das Dir gestohlen wurde.

Und Oh Gott … wie viel Zeit verbringen wir mit Dingen, die uns nerven, mit Menschen, die wir nicht mögen? Wie vollkommen bekloppt das ist! Vor Kurzem bin ich auf ein Zitat von Anthony Hopkins gestoßen, das mich genau daran erinnert hat.

Keiner von uns kommt lebend hier raus. Also hört auf, euch wie ein Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen. Spaziert in der Sonne. Springt ins Meer. Sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern. Seid freundlich. Seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.“

Quelle: https://www.myzitate.de/anthony-hopkins/

Ja! Ich will mich daran halten: Ich will die Zeit mit den Kindern genießen. Will nur noch Dinge tun, die ich gerne mache, will meine Träume verwirklichen, will glücklich sein. Ich will leben. Aber es macht mich traurig, dass ich das alles nicht mit Dir gemeinsam tun kann. Wir haben unsere angefangene Filmreihe nicht zu Ende geschaut. Waren noch nie zusammen shoppen oder gemeinsam in der Therme, noch nie miteinander Schlittschuhlaufen. Vielleicht hätten wir das nie gemacht, aber dass wir es nicht mehr können – dass Du es nicht mehr kannst – ist schrecklich. Es gibt viel zu viele Dinge, die Du nie erlebt hast. Du solltest dich auf der Arbeit herumärgern, Deine Kinder in der Pubertät ertragen, weinen, wenn sie zum Altar geführt werden, sie trösten, Dich mit deinem Mann streiten und wieder vertragen, mit Freundinnen feiern gehen … oh scheiße diese Liste ist so unerträglich lang, dass mir schlecht wird.

Alles ist relativ
Und sollte ich mich dann doch mal hängen lassen, besinne ich mich darauf, dass alles so viel schlimmer sein könnte. Ich könnte jahrelang um mein Leben kämpfen. Meine Kinder müssten mir dabei zuschauen. Mir könnten Chancen vorgegaukelt werden, ich könnte immer weiter hoffen, alles tun und am Ende doch verlieren. Dagegen ist doch wirklich alles nicht mehr wichtig. Vor Kurzem habe ich eine Version des Lieds „Froh zu sein bedarf es wenig“ gehört, bei dem es darum geht, sich einfach nur des Lebens zu erfreuen. „Wenn ich aufwach‘ und die Sonne lacht, macht das Leben wirklich Sinn. Und wenn ich aufsteh‘ und zum Fenster geh‘, muss ich lachen, wenn ich seh‘: Was vor mir liegt, ist ein Königreich. Denn wer das Leben liebt, nur der ist wirklich reich.“ Dass Dir das Leben an sich genommen wurde … DAS relativiert alles.

Manchmal träume ich von Dir. Wenn ich aufwache ist es, als wärst Du kurz da gewesen. Ich habe Deinen Mann und so viele andere weinen sehen, die berührenden Worte des Pastors gehört und an Deinem Grab geweint. Und doch warte ich manchmal auf eine Nachricht von Dir. Es ist auch nach fast einem Jahr immer noch unfassbar für mich, dass Du einfach nicht mehr da bist. Dass die Welt sich weiterdreht, obwohl doch einer fehlt. Obwohl Du fehlst.

Ab und an besuche ich Dich und erzähle Dir, was in der Zwischenzeit so passiert ist bei uns. Auch heute werde ich vorbeikommen und ein Glas Sekt für Dich mittrinken. Du weißt ja … das kann ich besonders gut 🙂 Und dann habe ich wieder Dein Lachen im Ohr, weil es so mitreißend ist. Dein trockener Humor fehlt mir so sehr. Du fehlst mir.

Das alles wollte ich Dir noch sagen. Und ich wollte Dir Tschüss sagen.

Ich vermisse Dich
Deine Verena

11 Antworten auf „Ich hab‘ Dir gar nicht Tschüss gesagt

  1. Ein wunderschön und stillvoll geschriebener Abschiedsbrief, der zu Tränen rührt und zeigt, welch mieser Verräter das Leben sein kann.Gleichzeitig ist dieser Beitrag ein Liebesbrief an das Leben und die Freundschaft…und die Schreibkunst!

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    1. Dankeschön 😘💕 Es bedeutet mir viel, dass so viele so positiv reagiert haben und ich hoffe, dass ich manche aufrütteln konnte, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen! ❤️

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  2. Pingback: Bye bye 2019

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