... über Abnehmwahn und Leistungsdruck · Vreni schreibt

Die Sache mit der Frischhaltefolie oder Was heißt schon nachhaltig, wenn man abnehmen kann

Was gehört in so eine Trainingstasche? Keulen, Reifen, Seil, Band, Ball, Knieschoner, Handtuch und selbstverständlich … genau: Frischhaltefolie. Klar doch!

1996

Ich stehe im Bad und will mich gerade für das Training anziehen, als ich meine Mama schimpfen höre. Sie sucht die Frischhaltefolie. Die versuche ich mir allerdings gerade um den kompletten Körper zu wickeln. Seit ein paar Tagen werden wir im Training wieder gewogen und haben krampfhaft überlegt mit welcher Methode wir noch irgendwie Gewicht loswerden können. Und auch wenn bei mir die Waage meist das höchste Gewicht der Mannschaft anzeigt, so kann ich zumindest von mir behaupten: Noch weniger essen geht wirklich nicht. Was das nun mit der Frischhaltefolie zu tun hat? Nun… Unter Plastik kann die Haut nicht atmen. Kennt ja wohl jeder von Synthetik Klamotten. Man schwitzt wie ein Schwein!

Je mehr Lagen, desto besser

Das reicht aber nicht. Um wirklich wirklich möglichst viel Wasser zu verlieren, um am Ende des Tages 100 g weniger zu wiegen, muss noch mehr her. Nachdem ich also Lage um Lage der Folie um Beine und Po gewickelt habe, ist der Oberkörper dran. Also der Bauch. Brüste sind ja so gut wie keine da. Danach ziehe ich eine Hose an, und noch eine, noch eine und noch eine. Am Ende trage ich Strumpfhose, Leggins, Radlerhose, lange Hose, kurze und lange Schwitzhose (oder auch Saunahose genannt – welch passender Name), kurze Stulpen, lange Stulpen, Bustier, Trägershirt, T-Shirt, Langarmshirt und einen dicken Pullover. Ach ja… Ich habe vergessen zu erwähnen: Draußen sind fast 30 °C. Dreißig!!

Ich frage mich noch kurz, ob ich noch irgendetwas drüber ziehen soll, fürchte aber, dass ich mich dann überhaupt nicht mehr bewegen kann. Ich bin dann also bereit. Meine Mama mustert mich. Ich spüre, dass sie eigentlich etwas sagen will. Aber sie dringt ja sowieso nicht zu mir durch. Zu groß ist meine Angst, Schuld daran zu sein, dass meine Gruppe Punktabzug bekommt. Meiner Figur wegen. Und noch größer die Angst vor den missbilligenden Blicken der Trainer bei dem Blick auf die Anzeige der Waage. Schließlich möchte meine Mama mir auch nicht die Chance auf Erfolg nehmen. Denn so sieht es aus.

Der Sündenbock

Ich turne seit längerem schon kein Einzel mehr. Das ist super, weil man nicht alleine und einsam auf der Fläche steht und das gemeinsame Training einfach viel mehr Spaß macht. Außerdem können wir so alles teilen. Freud und Leid. Unseren Erfolg und unsere Miseren. Und die Frischhaltefolie 😉 Aber wie alles hat das Ganze natürlich auch einen Haken. Die Gruppe turnt immer so gut wie ihr schwächstes Glied. Das bedeutet: Wer den schlechtesten Sprung macht, die schwächste Pirouette oder den wackeligsten Stand, gibt die Punktzahl vor. Niemand möchte, dass ihm diese Ehre zuteil wird. Logisch! Dieser Druck reicht aber natürlich nicht aus. Denn es bedeutet vor allem nämlich auch: Die Dickste bestimmt, wie viel Punktabzug es gibt. Juchu! Diese Ehre gebührt meist mir.

Und auf ein Neues: zur Waage bitte!

In der Halle angekommen, müssen wir direkt auf die Waage. Oh nein! Ab jetzt heißt es vor UND nach dem Training auf zu unserer Lieblingsbeschäftigung. Wer am wenigsten Gewicht verloren hat, kann schließlich noch eine Extrarunde durch die Halle drehen. Ja, ich finde auch: Der Abnehm- und Leistungsdruck ist einfach viel zu gering. Warum also nicht noch einen kleinen Anreiz schaffen? Und so ein Mist! Jetzt stehen wir da, müssen hundert Klamotten ausziehen, die Folie abwickeln und uns dann gleich wieder in Schale werfen. Wir haben aber ja mitgedacht. Was gehört in so eine Trainingstasche? Keulen, Reifen, Seil, Band, Ball, Knieschoner, Handtuch und selbstverständlich … genau: Frischhaltefolie. Klar doch! Und gleichzeitig verbrennen wir bei dem ganzen Prozedere noch ein paar Kalorien. Man muss ja das Positive sehen.

Nur einmal dünn sein

Nun gut. Ich bin dann auch gleich dran. Obwohl ich nun schon wirklich wirklich oft auf dieses Kackteil gestiegen bin, kostet es mich immer noch eine so große Überwindung. Ich würde mal gerne ein Gewicht haben, das vollkommen okay ist. Manchmal träume ich davon, ich wäre diejenige mit der kleinsten Zahl auf der Waage. Hätte keine Gewichtsprobleme. Das ist schon irgendwie süß, denn es ist so abwegig, dass ich lachen muss. Am liebsten würde ich mich wie mit sechs Jahren einfach im Klo einsperren. Mit 15 ist das dann wohl keine Option mehr. Als wir fertig sind, wickeln wir uns alle wieder ein. Natürlich können wir die alte Folie nicht mehr verwenden. Unter unserer leichten Bekleidung ist es wohl kaum verwunderlich, dass sie vollkommen nass und verklebt ist. So … nur noch trölftausend Klamotten drüber ziehen und schon kann es losgehen.

Hitzewallungen

Wir ziehen das durch! Wochenlang! Es ist so unglaublich unbequem mit vier Hosen Spagat und Überspagat zu machen. Die unzähligen Lagen an Folie und Stoff schneiden in die Haut und es fühlt sich an, als wiege man 100 Kilo. Wenn wir ab und an nach draußen gehen, um Luft zu schnappen, gehen wir fast ein, weil es einfach nur unmenschlich heiß in dieser Montur ist. Wenn die Sonne dazu kommt, ist es schier unerträglich. Natürlich dürfen wir in den vier Stunden Training trinken. Möchte ich aber nicht. Dann wäre das alles ja umsonst. Wir sind nicht doof und wissen selbstredend, dass der Wasser- und damit verbundene Gewichtsverlust eine kurze Erscheinung auf der Digitalanzeige ist. Aber was für uns zählt, ist genau das: Der kurzfristige Erfolg. Bloß nicht diejenige sein, die am Ende am wenigsten abgenommen hat! Wir spülen also meist den Mund nur aus und halten den Kopf einmal unter den Wasserhahn. Im Geräteraum futtern wir in einer dunklen Ecke immer mal wieder einen Löffel Cefrisch-Pulver. Unser Schatz! Hat jeder in der Tasche. Wenn man das schön lutscht, schmeckt es nicht nur wie eine Süßigkeit, sondern vermittelt im Mund irgendwie das Gefühl, man hätte etwas getrunken. Wiegt auf jeden Fall weniger als das Wasser und gluckert nicht so während des Turnens. Manchmal trinken wir aber auch heimlich. Das ist so bescheuert! Als ob wir damit verhindern könnten, dass wir umsonst so geschwitzt haben.

Heute habe ich Glück. Auch wenn die Kilozahl niemals zufriedenstellend ist, so habe ich zumindest nicht am wenigsten Gewicht verloren. Jetzt aber schnell nach Hause, einen Kilo Wasser trinken …

Heute

Wenn man jung ist und etwas mit so viel Herzblut macht wie wir diese Sportart, dann macht man so Einiges. Sich in Frischhaltefolie packen zum Beispiel 😉 Den Sinn dahinter hinterfragt man nur selten, denn man hat ein bestimmtes Ziel, das man erreichen möchte. Und besteht auch nur die geringste Chance, dieses möglichst schnell zu erreichen, ergreift man sie. Ich wusste natürlich, dass ich all die Flüssigkeit, die ich verloren habe, direkt wieder zunehme, sobald ich zuhause etwas trinke. Aber das langfristige Denken war keine Option. Schließlich musste ich sofort auf die Waage und nicht in einem Monat. Dazu kamen solche Dinge wie Krafttraining am Ende jeder Einheit. Muskelaufbau und gleichzeitig abnehmen: völlig sinnfrei! Was soll ich sagen? Ich wäre einfach so gerne dünn gewesen und wäre es heute noch! Da is nix mit Vernunft!

Rückblickend würde ich sagen, wir hatten auch ganz schön Glück, dass damals eine allgemeine Geschmacksverirrung herrschte und die Mode so weit geschnitten war. Sonst hätten wir niemals auch nur einen Teil der Klamotten anziehen können, die wir dieser Tage alle gleichzeitig übereinander getragen haben. Hässlich, aber praktisch! Und das Thema Nachhaltigkeit war ja offensichtlich so was von kein Thema. Nicht einen Gedanken haben wir daran verschwendet, was es für die Umwelt bedeutet, uns zig Mal in Frischhaltefolie einzuwickeln. Frischhaltefolie! Auf diese Idee muss man doch erst mal kommen. Verrückt … Die seltenen Male, bei denen ich heute mal Frischhaltefolie verwende, achte ich peinlich genau darauf bloß nicht ein Fitzelchen zu viel abzuschneiden. Der Umwelt zuliebe. Aber ausnahmslos denke ich dabei an die Zeit zurück, in der wir uns da rein gezwängt und wie Michelin Männchen trainiert haben. Und ich frage mich, wie um Himmels Willen wir uns bewegen konnten. Vier Stunden lang volles Programm. Noch verrückter …

2 Kommentare zu „Die Sache mit der Frischhaltefolie oder Was heißt schon nachhaltig, wenn man abnehmen kann

  1. Sehr guter Artikel, mir gefällt dein Schreibstil und man kann sich wirklich in dich damals hineinversetzen. Dieser Druck klingt echt unmenschlich, unglaublich sowas! Schade, dass es in vielen Sportarten wohl noch immer so zugeht. Ich war 10 Jahre im Ballett und zum Glück wurde hier jede (und manchmal auch jeder 🙂 ) akzeptiert und unterstützt. Aber was ich von anderen Schulen gehört habe…
    Lg Luisa

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Luisa, vielen Dank für deinen Kommentar und das Kompliment! Ich glaube, es hat sich in den letzten Jahren schon etwas geändert. Aber so wirklich drin bin ich da nicht mehr und möchte es auch gar nicht so sehr sein. Beim Ballett gibt es tatsächlich ganz schön harte Geschichten. Die kenne ich auch. Da hast du wirklich Glück gehabt! Ich denke, der Spaß sollte viel mehr in den Vordergrund rücken, aber beim Ballett geht es eben ab einem bestimmten Zeitpunkut auch um Geld verdienen oder nicht. Aber wie auch immer: ich möchte Sport nur noch des Spaßes wegen machen ☺️ Ganz liebe Grüße, Vreni

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