... über Abnehmwahn und Leistungsdruck · Vreni schreibt

Qualifikation zur JEM – Unsere größten Momente bleiben für immer

Wir leiden zusammen, fiebern zusammen, lachen und weinen zusammen. Und wir streiten nie. Wir kämpfen um jedes Pünktchen und jedes Pfündchen – gemeinsam. Ich liebe es!

In Aktion bei der Junioren-Europameisterschaft in Thessaloniki 1993

15. April 1994 Karlsruhe

Wir haben es geschafft! Scheiße war das knapp! Aber nach monatelanger Vorbereitung und zahlreichen Wettkämpfen haben wir es endlich geschafft! Wir haben uns zur Junioren-Europameisterschaft in Thessaloniki qualifiziert. Wir werden im gesamten kommenden Jahr im Juniorinnenbereich Deutschland vertreten. Wir mögen ein kleiner Verein sein, aber eine Juniorennationalmannschaft gibt es nicht. Also sind wir das nun sozusagen.

Steiniger Weg

Der Weg dahin war alles andere als leicht. Momentan trainieren wir sieben Mal pro Woche jeweils vier Stunden. Am Wochenende auch mal mehr. Aber ich muss ehrlich sein: noch nie bin ich so gerne zum Training gegangen. Nie war ich ehrgeiziger, verbissener und selbstbewusster. Einladung zum Kindergeburtstag? Pfff … Mama Geburtstag? Pfff … KJG- oder Schulfest? Pfff … einmal die Tränen runter schlucken und ab in die Halle! Manche Opfer muss man bringen und auch wenn es manchmal schwer fällt, so gehört es eben dazu. Und ich habe meine besten Freundinnen gefunden. Es ist hart. Aber wir leiden zusammen, fiebern zusammen, lachen und weinen zusammen. Und wir streiten nie. Wir kämpfen um jedes Pünktchen und jedes Pfündchen – gemeinsam. Ich liebe es!

10. Oktober 1993 Dillingen/Saar

Insgesamt gibt es drei Qualifikationen darum, wer denn nun an der JEM für Deutschland starten darf. Das wissen wir noch nicht. Aber wie das in dem Sport so ist, wird an der ein oder anderen Stelle eben geschoben. Was nicht passt wird passend gemacht. Es sei denn, wir machen dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung 😉

Heute hätten wir gewonnen. Wir haben in unserer eigenen Halle fehlerfrei geturnt, hatten unsere gesamte Familie und unsere Freunde als Unterstützung und es hat geklappt. Aber nix da! Ein zweiter Wettkampf wird angesetzt. Schließlich haben wohl auch die Kampfrichter eine klare Vorstellung davon, wer der Sieger sein soll – und das sind wohl nicht wir.

26. Februar 1994 Bremen

Es folgt also noch mal die wahnsinnige Aufregung, der Nervenkitzel, das Warten auf die Punkte. Ich habe mich so extrem angestrengt, dass ich nach den Übungen das Gefühl habe, ich könne nicht einatmen. Egal wie viel Luft ich auch hole, es scheint nie genug zu sein, um meine Lungen zu füllen. Ich glaube ich ersticke. Aber ich hyperventiliere nur. Zumindest wird mir das gesagt. Das nimmt mir aber nicht die Angst davor, dass es beim nächsten Mal wieder passiert. Und es passiert wieder.


Nachdem wir fertig sind und auf das Ergebnis warten, ist mir elendig schlecht. Das muss die Aufregung sein. Anscheinend hatten wir heute nach dem ersten Durchgang etwas weniger Punkte, haben uns dann aber wieder an die Spitze gekämpft. Nach vierstündigem Warten wird uns gesagt, dass es einen weiteren Wettkampf geben wird. Das Ergebnis passt den hohen Tieren wieder nicht.

Alles für die Figur – auch mal Magen-Darm

Wir fahren also nach Hause. Und Leute: es war nicht die Aufregung. Ich habe die erste Magen-Darm-Grippe meines Lebens! Und sitze sechs Stunden im Bus von Bremen nach Hause. Kein Spaß kann ich euch sagen! Der Papa von Vanessa* muss zwischendurch an fremden Haustüren klingeln, um dann jubelnd mit ein paar Tüten zurückzukommen. Mit ein paar leeren Tüten. Auch wenn sie das nur kurzzeitig sind 😉 Nicht schön! Aber effektiv!! Denn ein paar Tage später im Training lobt mich die Landestrainerin wie schön dünn ich bin. Ja! Ich klopfe mir auch auf die Schulter. Hab ich toll gemacht. Mit so viel Eigenleistung 😉 Kurioserweise bin ich dennoch wahnsinnig stolz!! Hat sich doch gelohnt so zwei Tage gar nix in sich zu behalten.

15. April 1994 Karlsruhe – Der Sieg

Auf ein Neues also. Nun ist der Tag der Entscheidung gekommen. Wir haben eine komplett neue Choreografie gelernt, haben trainiert wie blöd und gehungert wie blöd. Ich bin so aufgeregt, dass ich am liebsten vor der Übung kotzen würde. Aber es läuft gut. Bis auf meinen Erstickungsanfall nach der Übung. Keine Ahnung, wo das auf einmal herkommt, aber ich strenge mich ja auch wirklich wahnsinnig an. Ist bestimmt normal sag ich mir. Wird mich aber seit Bremen für immer begleiten. Nun gut … in der zweiten Übung blende ich alles aus. Bis zum Schluss kämpfe ich erbittert, gebe 100 Prozent und versuche nicht über meine Atmung nachzudenken. Kurz vor Ende setzt sich die Konkurrenz in die Zuschauerreihen direkt neben der Fläche. Ihre hässlichen weißen Anzüge sind so präsent neben uns, dass es uns nicht entgeht. Wir kennen die Mädels nicht. Aber die sind unverschämt dünn: Minuspunkt. Sie sind diejenigen, die gewinnen sollten: noch ein Minuspunkt. Und nun sitzen sie da, um uns zu verunsichern und warten darauf, dass wir einen Fehler machen. Kein Wunder, dass wir sie so blöd finden. Wir machen aber keinen Fehler. Ätsch!! Wir fühlen es schon währenddessen und wir hauen die Übung unseres Lebens raus. Alles sitzt, alles passt. Das muss reichen, oder?

Der Moment des Lebens

Wir warten und zittern, haben 0,05 Punkte Vorsprung nach dem ersten Durchgang. Die blöden, weißen, dünnen Ziegen haben im zweiten Durchgang aufgeholt und unsere erste Wertung getoppt. Und dann kommt unsere. Wir gewinnen tatsächlich. Leute … ich kann diesen Moment kaum beschreiben, weil er einfach unbeschreiblich ist. Wir jubeln und weinen, lachen, umarmen uns. Sehen in den Rängen unsere Familien, die dasselbe tun. Und die nicht aufhören zu klatschen und zu johlen. Auch die Kampfrichter können sie nicht beruhigen. Gänsehaut pur! Mit nichts zu vergleichen. Der Wahnsinn!! Magisch! Wir haben es geschafft. Jeder Verzicht, jeder Schlafmangel, jede Anstrengung, jede Träne, jeder Schweißtropfen, jede Diät – es hat sich alles gelohnt!

Heute

Ja … bei all dem Leistungsdruck und dem Abnehmwahn, da gibt es so viele schöne Momente, die ich auch gerne mal mit euch teilen möchte. Dieser Sieg war so ein Moment, den man nur ein mal im Leben hat. Schöner noch, als bei der JEM selbst zu starten. Jahre später hatten wir alle immer noch Gänsehaut, wenn wir die VHS geschaut haben. Die Kamera stand hinter den Zuschauern. Man hört nur die Wertung und wie dann der Rest der Sprecherin übertönt wird und im Gegröle und Jubel untergeht. Unsere Eltern und Geschwister reißen die Arme nach oben, springen auf, es herrscht ein riesiges Durcheinander an Umarmungen. Was wir da empfunden haben – auch noch beim Anschauen des Videos – das ist einfach wirklich unbeschreiblich.

Den Moment festhalten

Leider existieren keine Fotos von diesem Wettkampftag, dieser außergewöhnlichen Tour insgesamt. Ich habe also extra einen Videorecorder aufgehoben, damit ich irgendwann mal die VHS reinschieben und mich erinnern kann. Aber wisst ihr was? Ich benötige gar kein Foto oder Video. Das Erlebnis war so schön, so emotional und so echt. Es wird einfach immer da sein. Heute haben wir überall unser Handy am Start, um jeden noch so banalen Moment mit der Kamera aufzunehmen. Und bei all dem Wahn, alles festhalten zu wollen, gehen uns manchmal die tatsächlichen Momente einfach verloren. Wir sehen sie nur noch auf dem kleinen Bildschirm und der wahre Augenblick geht an uns vorbei, ohne dass wir es merken. Schade!

Freundschaft, die für immer hält

Ich glaube, jeder von uns kann sich genauso an diesen einen Moment erinnern. Und an unsere Freundschaft. Wir haben alle untereinander noch Kontakt. Die einen mehr, die anderen weniger. Aber uns verbindet natürlich die gemeinsame Zeit. Was ich aber früher nie wirklich wahrgenommen habe, ist mein Glück, dass ich auch außerhalb der Halle so tolle Freunde hatte. Freunde, die damals schon da waren und die heute immer noch da sind. Denn das ist alles andere als selbstverständlich! Die Freunde haben nämlich zu mir gehalten, obwohl ich mich auf keiner Feier habe blicken lassen. Obwohl ich nichts anderes als meinen Sport im Kopf hatte. Sie sind weit zu Wettkämpfen mitgefahren und mussten sich einen ganzen Tag in der Halle geben, obwohl sie nichts damit zu tun hatten. Sie waren da, als ich in ein Loch gefallen bin, als ich beschlossen habe, dem Leistungssport den Rücken zu kehren. Und sie baden heute noch die Schäden aus 😛 Drei davon sind Paten meiner Kinder, bei einer bin ich Patentante und auch zu dem Rest haben wir engen Kontakt. Danke Ihr Lieben, dass ihr da seid und es immer sein werdet! Ich hab‘ euch lieb ❤

*Namen wie immer geändert

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