Am Ende entscheiden wir uns alle für unsere Leibspeise: Quark mit Salatblättern drin. Der Wahnsinn sag ich euch!

1994
Wir sind in Paris angekommen. Wir werden in den nächsten drei Tagen in Thiais Deutschland vertreten. Juniorennationalmannschaft … Ganz haben wir es noch nicht geschafft, aber wir sind auf dem besten Wege dahin. Zwei Qualifikationen haben wir schon gewonnen, aber es soll noch einen Entscheidungswettkampf in Karlsruhe geben. Noch mal zittern, noch mal alles geben, wirklich alles. Noch mal zwei perfekte Übungen liefern. Und noch mal die schreckliche, nervenaufreibende Warterei auf die Wertung. Alles hängt dann wieder nur von dem Kampfgericht ab.
Zunächst aber dürfen wir morgen bei einem internationalen Turnier starten. Für Deutschland. Das ist wirklich ein tolles Gefühl! Wir sind gerade in der Wettkampfhalle angekommen. Heute ist nur Einturnen, d.h. wir trainieren noch eine Runde und dürfen dann unsere Choreografie einmal mit Musik auf der Wettkampffläche testen. Es ist klasse! Wir sind hochmotiviert und sehen rund herum jede Menge bekannte Gesichter. Manche von früheren Wettkämpfen. Andere kennen auch wir bisher nur aus dem Fernsehen. Wie krass!! Und nun turnen auch wir hier. Dieses Gefühl ist wirklich unbeschreiblich.
Essen für Gymnastinnen
Nach der langen Autofahrt und der ersten Trainingseinheit müssen wir jetzt aber was essen. Also ihr wisst schon!? Irgendetwas zu uns nehmen, das angeblich auch nach irgendetwas schmeckt. Im Hotel wurden bei unserer Ankunft schon Taschen, Matratzen, Schränke und Bäder kontrolliert. Diesmal konnten wir leider nix retten. Wenn man die Aufteilung der Zimmer im Hotel nicht kennt, kann man so schlecht planen, wer strategisch am besten was wo versteckt. Dumm gelaufen … und „Essen“ ohne oder mit wenig Kalorien schmeckt bekanntlich ja einfach nach nix. Nun gut. Wir gehen in den Nebenraum, wo ein kleines Salatbuffet aufgebaut ist. Dort stehen grüner Blattsalat, Salatsoße, Quark, heißes Wasser, Tee und Würfelzucker. Salat ist super. Das isst jeder von uns ganz gerne. Wenn wir denn Soße drüber machen dürften. Denn die ist mit Mayonnaise. Und ihr ahnt es schon: Mayo ist nicht! Sie wird also konfisziert und wir sitzen nun da mit Hasenfutter.
Wer essen will, muss kreativ werden
„Ach, was soll‘s“, denken wir uns. „Essen wir halt was von dem Quark.“ Ähm … da steht aber kein Obst für rein, kein Honig oder irgendetwas anderes zum mischen. Das ist nun nur so meine Zweitlieblingsspeise, dicht gefolgt von Salat mit ohne alles. Tee möchte keiner. Aber aus dem Zucker könnte man doch was machen!? Also versuchen wir mit den Löffeln – Messer sind keine da! – die Zuckerstückchen zu zerkleinern, um den Quark etwas zu süßen. Funktioniert super! Jetzt haben wir Quark mit Zuckerklumpen. Tanja* kommt auf die Idee, auf den Zuckerstücken herumzutrampeln, um sie zu zermalmen. Dick genug sind wir ja 😉 Das ist irgendwie eklig, aber was tut man nicht alles in seiner Verzweiflung!? Irgendwann müssen wir über uns lachen. Ehrlich!! Wenn uns jetzt einer sehen würde, wie wir um und auf diesem Zucker herumtanzen, was einfach mal überhaupt nichts bringt. Es bleiben Klumpen. Ich bin mir nicht sicher, ob er vor Lachen weinen würde, weil es so lächerlich aussieht oder eher vor Mitleid, weil es so erbärmlich ist. Wir lachen noch. Zum Glück. Das vergeht uns nämlich als wir schließlich am Tisch sitzen und nicht wissen, wie wir den Salat runter kriegen sollen. Ernsthaft… Ich kenne niemanden, der Salat ohne Soße ist, außer vielleicht das Kaninchen meines Cousins. Wir versuchen es, aber können den mühsam zerkauten Salat nicht schlucken.
Am Ende entscheiden wir uns alle für unsere Leibspeise: Quark mit Salatblättern drin. Der Wahnsinn sag ich euch! Beim nächsten Mal werden wir nicht so lange brauchen, um uns aus der riesigen Auswahl für das richtige Gericht zu entscheiden. Es gibt drei Tage lang genau dasselbe. Also das gleiche. Schaut man sich den Salat an, könnte er aber auch derselbe sein. Man weiß es nicht 😉

Wunderbare Tage in Thiais
Nichtsdestotrotz lassen wir uns die Stimmung nicht vermiesen. Okay … ich rufe zuhause an und jammere ganz schrecklich, dass wir nur Salat ohne Soße essen und furchtbar Hunger haben, aber im Großen und Ganzen nehmen wir es mit Humor. Und der ganze Stress lohnt sich wirklich. Wir haben eine wunderbare Zeit.
Das Hotel ist der Wahnsinn. Mit allem Schnickschnack! Als ich unter der Dusche stehe, beginnt auf einmal ein lautes Stöhnen. Ich schaue mich um, wo das Geräusch herkommt. Da sind Lautsprecher über mir. Im Bad sind an der Decke überall Lautsprecher!! Wozu benötigt man die? Und was zur Hölle gucken die Mädels da draußen? Ihr könnt euch es ja denken, was sie da schauen. Es ist wie bei einem Unfall. Wir finden es ziemlich eklig, können aber nicht wegschauen. Nach zehn Minuten schalten wir um und wollen noch ein bisschen die Zeit genießen, bis wir wieder zur Halle fahren müssen. Richtig peinlich wird es dann später beim Auschecken. Als wir die Karten abgeben, weist die Empfangsdame daraufhin, dass dort noch eine offene Rechnung ist. Unsere Trainerin meint, das könne nicht sein. Die Dame schiebt ihr also die Rechnung hin. „Fernsehen mit pornografischen Inhalten“ oder so etwas Ähnliches steht darauf. Es lässt sich natürlich klären. Denn selbstverständlich haben wir das NICHT geschaut und außerdem darf so etwas ja nicht für 12-Jährige einfach so zugänglich sein. Das ist sicherlich noch von dem Vorgänger. Puh … Nochmal glimpflich davon gekommen. Lachen müssen wir dann aber alle gemeinsam darüber.
Auch den Wettkampf genießen wir wirklich. Kurz bevor wir auf die Fläche gehen, ist mir wieder furchtbar schlecht. Das ist bestimmt die Angst, dass ich wieder keine Luft kriegen könnte nach der Übung. Aber es läuft gut. Wir trainieren mit den „Großen“, turnen ein tolles Turnier, schreiben Autogramme und fühlen uns einfach toll. Hat sich das Hasenfutter doch gelohnt 🙂
Heute
Mittlerweile kann ich echt so vieles mit einem Augenzwinkern sehen. Ehrlich! Ich meine, im Grunde genommen haben wir mit dem Essen das getan, was andere in unserem Alter mit dem Alkohol gemacht haben: verstecken, heimlich verzehren, die Trainer austricksen, sich daran erfreuen. Das Ganze hat dann natürlich auch immer wieder zum Wir-Gefühl beigetragen und uns immer mehr zusammengeschweißt.
Wenn ich heute in einem Hotel ankomme, denke ich fast immer an irgendeine Geschichte, die ich in meiner Jugend erlebt habe. Ich entdecke Ecken, in denen man super Schokolade verstecken könnte oder frage mich, ob evtl. mein Vorgänger gewisse Sender geschaut hat. Wir waren ja eigentlich auch ganz lieb und unschuldig: für Verabredungen keine Zeit, Internet gab‘s noch nicht. Da kann man ja ruhig mal die Möglichkeit am Schopfe ergreifen 😉 Ich war allerdings seither nie wieder in einem so teuren Hotel, in dem sogar im Bad Lautsprecher waren! Ich verstehe bis heute nicht, wozu die notwendig waren.
*Namen wie immer geändert